Abendlied

Über Zuhause, die Dinge darin und wie daraus ein Buch wurde

1981 zogen wir um. Ich erinnere mich an den ersten Morgen im neuen Haus. Unserem Haus. Noch war es kein Zuhause. Mein Zimmer groß wie ein Tanzsaal. Die grün geblümte Tapete, der grüne Wandschrank. Licht schimmerte durch die dunkelgrünen Vorhänge, und ich war allein. Meine Eltern hatten unser Etagenbett geteilt. Meine Schwester Birthe schlief nun nebenan. Rotbrauner Wandschrank. Tapete mit Blumen in Gelb und Orange. Passender Vorhang. Neue braune Teppiche. Seltsam, wie Gegenstände die Erinnerungen an einen Ort formen, ihn mit Gefühlen aufladen und irgendwann zu dem machen, was man Zuhause nennt. Eines Tages würde Birthe versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen und die ganz besonderen Schwingungen unserer Familie in diesem Haus fotografisch festzuhalten. Über Jahre hinweg würde sie unser Leben in Portraits und Stillleben inszenieren, mit kritischem Blick auf die Dinge schauen, die einmal so vertraut waren – und dabei die Demenz meiner Mutter dokumentieren, die eine schleichende Veränderung auslöste. Daraus würde ein Buch entstehen: Abendlied.

Birthe Piontek: Abendlied, "Wallpaper" - Reste der Tapete aus dem Zimmer meiner Schwester.
Reste der Tapete aus dem Zimmer meiner Schwester.
Foto: Birthe Piontek – „Wallpaper“ aus dem Projekt Abendlied

Home is where the Buntstift is

Vertraute Gegenstände halfen mir dabei, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen. Die Muscheln zum Beispiel, die ich von meinem Großvater bekommen hatte. Meine Schlumpfsammlung, die Puppenstube mit ihren Bewohnern. Haarspangen. Bücher. Unser Sofa, auf dem ich lag, wenn ich meine Lieblingsplatten hörte. Die Dinge, mit denen meine Mutter das Wohnzimmer dekorierte. Der Wandteppich im Schlafzimmer meiner Eltern mit dem Bett, in dem man kuscheln konnte. „Hört mal, die Amsel singt ihr Abendlied“, sagte meine Mutter manchmal, wenn es Zeit wurde schlafen zu gehen.

Trotzdem vermisste ich meine Freunde. Den Bauernhof mit der Hühnerwiese hinterm Haus und Ari, die zahme Henne, die mir Klee aus der Hand fraß. Wenn mir jetzt etwas verlorenging, schmerzte das mehr als zuvor, störte das Gleichgewicht, das ich gerade mühsam wiederherstellte. Als ich einige Monate nach dem Umzug aus der Schule kam und den Verlust meines gelben Buntstiftes beklagte, tröstete mich meine Mutter mit der Ankündigung eines neuen Geschwisterchens. Karin. Wieder ein Mädchen. Aber Papa trug es mit Fassung und viel Liebe.

Alles auf Anfang

Das Baby mischte die Karten neu und hielt alle auf Trab. Ich lernte, welche Stufen der Treppe ich vermeiden musste, weil sie knarrten und womöglich zu lautem Weinen aus dem Bettchen führten, das im Arbeitszimmer meines Vaters stand, welches alsbald zum Kinderzimmer wurde. Mein Vater zog um ins Esszimmer, das Esszimmer wanderte in die Diele. Dort vertäfelten wir die Wände mit Holz. Nut, Feder, Nut, Feder. Dazu eine gemütliche Eckbank. Eine neue Küche mit viel Grün. Sehr schick für damalige Verhältnisse. Von Ergonomie allerdings keine Spur, und das mit dem Stauraum hätte man auch deutlich besser lösen können…

Birthe Piontek: Abendlied, "Two Dads" - Mein Vater auf der Treppe in unserer Haus. Er posiert mit einem frühen Foto von sich.
Jahre später. Mein Vater posiert mit einem frühen Foto von sich auf unserer Treppe. Die dritte Stufe von unten knarrte und war zu vermeiden, wollte man das Baby nicht aufwecken.
Foto: Birthe Piontek – „Two Dads“ aus dem Projekt Abendlied

Die Summe unserer Dinge?

Nach und nach kamen weitere Dinge hinzu, die mit dem nun nicht mehr ganz so neuen Haus verschmolzen und es zu einem Zuhause machten. Sie wurden Teil unseres Lebens. Teil unserer Identität? Wann sind Gegenstände einfach nur Sachen, wann Teil deiner DNA? Meine Eltern – beides Kriegskinder, die früh mit Verlust konfrontiert worden waren – warfen nichts so einfach weg. Vieles konnte man bestimmt nochmal gebrauchen. Und dann gab es ja auch noch die Erbstücke, diese kleinen Anker der Zugehörigkeit. Jeder Minimalist würde sich die Haare raufen. Man ist doch nicht die Summe seiner Dinge! Aber manche Dinge sind eben doch ein Teil von uns oder stehen für das, was uns verbindet.

Birthe Piontek: Abendlied, "Bowls" - Unsere Glasschalen für den Nachtisch. Kein gemeinsames Mittagessen ohne einen süßen Abschluss.
Ein gemeinsames Mittagessen endete nie ohne Pudding, Obstsalat, rote Grütze oder – zu besonderen Anlässen – Rotweincreme. Good times!
Foto: Birthe Piontek – „Bowls“ aus dem Projekt Abendlied

Das Abendlied beginnt

Irgendwann zog ich aus. Nun wohnte ich woanders, hatte ein Leben, das ich mit neuen Dingen gestalten konnte. Doch das Haus meiner Eltern war immer noch mein Zuhause. „Was machst du am Wochenende?“, fragten Freunde. „Ich fahre nach Hause“, lautete die selbstverständliche Antwort. Auch Birthe, die seit 2004 in Kanada lebte, kehrte regelmäßig zurück „nach Hause“. Und mit ihr – inzwischen Fotografin – kam eine neue Sichtweise, denn sie fing an, ihre Besuche mit der Kamera zu dokumentieren. Plötzlich rückten altbekannte Gegenstände in ein neues Licht. Und es wurde klar, dass sich etwas veränderte…

Der Prozess war schleichend. Auf den ersten Blick blieb alles beim Alten – ein Versuch, die heile Welt zu bewahren. Unsere ehemaligen Kinderzimmer verfielen in eine Art Starre, konserviert für den Besuch mitsamt den Dingen, die sich noch darin befanden. Bis klar wurde, dass meine Mutter sich immer mehr der Vergangenheit zuwandte und ihr die Gegenwart entglitt. Auf Arthrose folgten zunächst merkwürdige Anfälle, dann erste Aussetzer. Der Anfang einer Demenz, aber es dauerte, bis wir das begriffen.

Birthe Piontek: Abendlied, "Bright" - Für dieses Foto hielt ich einen Spiegel, der das Gesicht meiner Mutter erhellte.
Meine Mutter bekam gesundheitliche Probleme und veränderte sich, doch die Diagnose ließ auf sich warten. Mit dem Spiegel, den ich für dieses Foto hielt, war es wesentlich leichter, Licht ins Dunkel zu bringen.
Foto: Birthe Piontek – „Bright“ aus dem Projekt Abendlied

Relikt – Refugium – Requisit

Aus den liebgewonnenen Gegenständen, die so selbstverständlich Teil unserer Welt gewesen waren, wurden Relikte aus besseren Zeiten. Für meine Mutter aber hatte ihr Besitz nun zunehmend identitätsstiftende Funktion. Sie wurde mehr denn je zur Summe ihrer Dinge. Waren ihre Handtasche, ihr Brautkleid und die Armbanduhr am rechten Fleck, beruhigte sie das und gab ihr Orientierung. Mit dieser neuen Erkenntnis verwandelten sich Kleidung, Schmuck und andere Alltagsgegenstände allmählich in Requisiten für die Fotos meiner Schwester.

Birthe Piontek: Abendlied, "Veil" - Meine Nichte kuschelt sich an meine Mutter, die ihren Brautschleier trägt.
Immer wieder fragte meine Mutter nach ihrem Brautkleid. Die Enkel, die inzwischen heranwuchsen, spürten die Rastlosigkeit und reagierten liebevoll und einfühlsam.
Foto: Birthe Piontek – „Veil“ aus dem Projekt Abendlied

Die Inszenierung der Dinge

Bei jedem der Besuche von Birthe saßen wir Modell, inklusive der nächsten Generation, die bereits heranwuchs. Wir posierten einzeln oder zusammen, mal verkleidet, mal mit Requisit. Dabei entstanden Bilder, die familiäre Bindungen aufzeigten, hinterfragten, was uns und die Familie ausmacht, was unser Miteinander bestimmt und in denen die Gesundheit meiner Mutter zunehmend zum Thema wurde.

Selbst nur ein Steinchen im Mosaik, das sich im Geiste meiner Schwester bereits zusammenfügte, erkannte ich nicht immer, was eine Inszenierung bedeutete oder welche Rolle ein Gegenstand darin spielte. Der alte Frisierspiegel meiner Mutter zum Beispiel – eine liebgewonnene Dekoration aus dem Schlafzimmer. Er war in die Jahre gekommen, wackelte ein bisschen am Stiel. Doch er war immer da gewesen, solange ich denken konnte. Nun saß ich da und hielt ihn mir vor das Gesicht. Heute, mit etwas Abstand und im Kontext von Abendlied, sehe ich das Bild mit anderen Augen…

Birthe Piontek: Abendlied, "Mirror" - Ich halte mir den alten Frisierspiegel meiner Mutter vors Gesicht, eine liebgewonnene Deko aus dem Schlafzimmer meiner Eltern.
Spieglein, Spieglein, alter Kumpel. Bist du ein Teil von mir?
Foto: Birthe Piontek – „Mirror“ aus dem Projekt Abendlied

Besitz und Ballast

Kleidungsstücke spielten immer wieder eine Rolle. Ich erinnere mich, wie ich in einem verflucht schweren, mit Pelz besetzten Ledermantel in meinem alten Zimmer saß. Ich trug den Mantel verkehrt herum, die Kapuze über dem Gesicht und das Gefühl war – wie herrlich passend! – irgendwie erdrückend. Mir wurde heiß, das Atmen fiel mir schwer unter dem dichten Material. Der Geruch von Mottenkugeln. Jahre im Schrank. Das Ding nahm eigentlich nur Platz weg. Aber es war halt tadellos in Schuss… Auf der nächsten Reise nach Sibirien würde man sich darüber freuen!

Birthe Piontek: Abendlied, "Coat" - Ich posiere mit einem schweren Ledermantel, den ich verkehrt herum trage. Es ist heiß, unter der Kapuze kann ich nur schwer atmen...
Meine Schwester fotografiert mit einer Mittelformatkamera auf Film. Bei einer Sitzung wurden es schon mal gerne zwei oder drei Rollen, à 12 Bilder. Immerhin musste ich mir hier keine Gedanken über meinen Gesichtsausdruck machen…
Foto: Birthe Piontek – „Coat“ aus dem Projekt Abendlied

Loslassen

Der Ballast, der uns beim Posieren die Luft zum Atmen nahm, wurde nun auch im Alltag mehr und mehr als solcher erkennbar. Alles war zu viel. Das Zuhause entwickelte sich zum Haus mit Hindernissen. Und so fassten meine Eltern – fasste mein Vater – 2016 schweren Herzens den Entschluss zu verkaufen. Meine Mutter, die zusehends auf Unterstützung angewiesen war, brauchte ihre vertraute Umgebung, doch sie würde die Treppen nicht mehr lange meistern können. Eine neue Wohnung musste her, solange eine Um- und Eingewöhnung noch möglich schien. Als sie gefunden war, in der Nähe meiner Schwester und der Enkel, überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Nun waren wir gezwungen, binnen weniger Wochen so viele Dinge loszulassen, von denen wir uns bisher nicht hatten trennen können.

Nur noch einmal kehrten wir in unser altes Haus zurück, das nun nicht mehr unser Zuhause war. Da war nur noch ein Gerippe. Sogar den Wandschrank in Birthes Zimmer und die Schiebetür in der Küche hatten die Verwerter herausgerissen… Den Käufern war es egal, die würden nun alles umbauen und renovieren. Mieter würden das Haus mit neuen Dingen füllen und es zu ihrem Zuhause machen.

Die Rekonstruktion

Für meine Schwester war es an der Zeit, ihr Fotoprojekt zum Abschluss zu bringen. Es bekam den Titel Abendlied und nahm als Buch Gestalt an, das im Frühjahr 2019 veröffentlicht wurde. Jetzt haben die vielen Male, die wir für die Kamera posiert haben, einen Kontext, und ich bin dankbar für Birthes Sicht auf die Dinge. Das Haus ist derweil wieder ein Haus. Doch irgendwo in der Schnittmenge unserer Wahrnehmung, in diesem Buch, liegt unsere Identität, liegt unser Zuhause. Und das Leben, zu dem der Abschied nun mal dazugehört.

Birthe Piontek und Abendlied

Weiterführende Infos und ein kleines bisschen Werbung, denn ich bin stolz!

Seit 2004 lebt meine Schwester Birthe in Vancouver. Sieben Jahre lang fotografierte sie uns und unser Zuhause bei jedem ihrer Besuche in Deutschland. Daraus entstand ein Buch: Abendlied erschien im Frühjahr 2019 bei Gnomic Book und wurde im Rahmen des Contact Photography Festivals in Toronto vorgestellt. Birthe selbst beschreibt das Projekt im Artist Statement auf ihrer Webseite als persönliche Spurensuche zu den Themen Familie, Erinnerung und Verlust.

Bereits 2018 war Abendlied auf dem Guernsey Photography Festival gezeigt worden. Im selben Jahr gewann meine Schwester mit der Fotoserie nicht nur den Edward Burtynsky Grant – ein Stipendium, das den Weg zur Veröffentlichung des Buches bereitete – sondern wurde auch für den renommierten Prix Pictet und den Vonovia Award für Fotografie nominiert.

Vier Bilder der Serie wurden Teil der Sammlung des Museum of Contemporary Photography (MoCP) in Chicago. Das Projekt erfüllte Birthe aber auch einen Traum und wurde so für sie zum ganz persönlichen Meilenstein: Sie kam auf den Titel der Zeitschrift Photonews.

Nachtrag, 11. August 2019

Im US-amerikanischen Magazin „PhotoBook Journal“ erschien am 9. August eine Buchrezension zu Abendlied. Der Verfasser, Gerhard Clausing, trifft den Nagel auf den Kopf. Ähnlich wie das in der Rezension erwähnte Essay von Nich Hance McElroy aus dem Buch selbst, stellt die einfühlsame Analyse von Clausing für mich eine präzise, berührende Einordnung der Bilder meiner Schwester dar. Aus meiner Sicht absolut lesenswert als Ergänzung zu meinem Artikel!

Ich freue mich, wenn Sie mir unter dem Text einen Kommentar hinterlassen. Und vielleicht schlummert auch bei Ihnen eine Geschichte, die Sie in Ihrem Blog oder an einem anderen Ort mit jemandem teilen wollen? Brauchen Sie Hilfe beim Schreiben, schicken Sie mir gerne eine Anfrage über das Kontaktformular.

4 Comments

  1. Antworten
    Françoise Hickel 19. Juni 2019

    Liebe Christine,
    der Artikel hat mich sehr bewegt und gerührt! Du hast das so schön geschrieben.
    Liebe Grüße aus good old Lechenich
    Françoise

    • Antworten
      Christine Piontek 19. Juni 2019

      Liebe Françoise, ich freue mich über deinen Kommentar. Nicht nur, weil der Artikel dich berührt hat und ich mich dadurch mit meinen Gedanken gut bei dir aufgehoben fühle, sondern auch wegen deiner Grüße, mit denen du gerade einen kleinen Anker an den Ort meiner Kindheit auswirfst. Sei lieb zurückgegrüßt und hab einen schönen Feiertag

  2. Antworten
    Anja Rauch 18. Juni 2019

    Liebe Tini, liebe Familie Piontek!
    Es ist so ein liebevoll geschriebener „Bericht“… Ich kenne euer damaliges zu Hause sehr gut und habe viele schöne Stunden mit dir liebe Tini, deinen Geschwistern und deinen Eltern dort verbracht bzw verbringen dürfen. Behaltet diese Erinnerungen immer in euren Herzen
    Bis hoffentlich ganz bald
    Anja

    • Antworten
      Christine Piontek 18. Juni 2019

      Liebe Anja, ich danke dir für deinen lieben Kommentar. Es war immer schön, wenn du zu Besuch warst. Good times – Gott sei Dank bist du mir erhalten geblieben. Bis bald und ganz liebe Grüße

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